Durchblick im HRV-Parameter-Chaos

Im Laufe der jahrzehntelangen Forschung über Anwendungsmöglichkeiten der Herzratenvariabilität wurden viele HRV-Parameter entwickelt. Aber: Muss man sie alle bei der Auswertung berücksichtigen? Reicht eine Auswahl oder sind auch schon wenige Parameter aussagekräftig? Verschiedene Ansätze können Ordnung in das HRV-Parameter-Chaos bringen und die Interpretation vereinfachen.

Bei manchen HRV-Analysesystemen ist die Liste der HRV-Parameter nach einer Messung lang, andere begnügen sich mit einer Auswahl weniger Parameter oder auch mit nur einem Parameter. Die wesentliche Frage ist doch: Wie viele und welche Parameter braucht man überhaupt für eine Einschätzung der Funktionstüchtigkeit des vegetativen Nervensystems (VNS) und der Erholungsfähigkeit?

Die Antwort ergibt sich, wenn man die HRV-Parameter

  • nach Analyseverfahren sortiert,
  • deren physiologischen Bezug zum vegetativen Nervensystem beachtet und
  • deren Korrelation zur Vereinfachung nutzt.

Viele HRV-Parameter drücken nur in anderen Zahlen den gleichen Zusammenhang aus – mit anderen Worten: Es besteht eine Korrelation zwischen einigen HRV-Parameter, die man nutzen kann, um mit weniger verwendeten HRV-Parametern trotzdem einen Überblick über die Erholungsfähigkeit des Körpers zu erhalten.

Wie die System-Hersteller den Umgang mit HRV-Parametern für die Anwender vereinfachen, fasse ich weiter unten zusammen.

Ordnung schaffen mit den Analyseverfahren

Die verschiedenen Analyseverfahren zur Erhebung der Herzratenvariabilität (HRV) sollen hier nicht im Vordergrund stehen. Ich möchte Sie nicht damit quälen, wie zeit- oder frequenzbereichsbezogene, lineare oder nicht-lineare Parameter erhoben werden, und auch nicht auf die Vor- und Nachteile dieser Verfahren eingehen. Mir geht es darum, Ihnen Tipps zu geben, wie Sie sich den Umgang mit den vielen HRV-Parametern leichter machen können.

In den Analyseverfahren werden zwar unterschiedliche Werte erhoben, aber sie beschreiben die Aktivität der gleichen Teile des VNS. Hierzu ein paar Beispiele:

  • Um das Niveau des gesunkenen Ruhepulses zu beurteilen, reicht es, die durchschnittliche Herzrate anzuschauen. Die mittlere Dauer der RR-Intervalle kann vernachlässigt werden, weil die beiden Parameter direkt ineinander umgerechnet werden können.
  • Um zu sehen, wie gut der Parasympathikus seine Arbeit macht, können Sie sich die Werte der Parameter RMSSD (zeitbezogener Parameter), HF (frequenzbezogener Parameter) oder SD1 (nichtlinearer Parameter) anschauen. Alle drei Parameter drücken das Gleiche aus, nämlich die Aktivierung des Parasympathikus – nur mit anderen Zahlen.
  • Auch die Werte des SDNN (zeitbezogener Parameter) und Total Power (TP, frequenzbezogener Parameter) beschreiben jeweils die Gesamtvariabilität.

Auf welches Verfahren und welchen Parameter Sie ihr Augenmerk legen wollen, ist teilweise auch eine Sache der persönlichen Präferenz und des leichteren Verständnisses.

Maßgeblich für die Auswahl der HRV-Parameter kann genauso das Untersuchungsziel sein, denn für manche Erkrankungen liegen nur für bestimmte HRV-Parameter Studienergebnisse vor.

Tatsache ist, dass auch bloß mit HRV-Parametern aus Zeitbereichsverfahren eine umfassende Aussage über die Regulationsfähigkeit des VNS getroffen werden kann.

In den folgenden Tabellen finden Sie eine Auswahl von HRV-Parametern nach Analyseverfahren gelistet, jeweils mit der Zuordnung auf das VNS:

Parameter Beschreibung VNS-Zuordnung Analyseverfahren
SDNN Standard deviation of RR-intervals: Standardabweichung der RR-Intervalle im Messzeitbereich ohne klare Zuordnung zu Komponenten des VNS Zeitbereich
RMSSD Quadratwurzel des Mittelwertes der Summe aller quadrierten Differenzen zwischen benachbarten RR-Intervallen Parasympathikus Zeitbereich
NN50 Anzahl der Paare benachbarter RR-Intervalle, die mehr als 50 ms voneinander abweichen Parasympathikus Zeitbereich
pNN50 Prozentsatz aufeinanderfolgender RR-Intervalle, die mehr als 50 ms voneinander abweichen Parasympathikus Zeitbereich
SD1 Standardabweichung der Punktabstände zum Querdurchmesser des Poincaré-Streudiagramms Parasympathikus Zeitbereich
SD2 Standardabweichung der Punktabstände zum Längsdurchmesser des Poincaré-Streudiagramms Sympathikus und Parasympathikus Zeitbereich
TP Total power: Gesamtleistung oder Gesamtspektrum; entspricht Energiedichte im Spektrum von 0,00001 bis 0,4 Hz ohne klare Zuordnung zu Komponenten des VNS Frequenzbereich
HF High frequency power: Leistungsdichtespektrum im Frequenzbereich von 0,15 bis 0,40 Hz Parasympathikus Frequenzbereich
LF Low frequency power: Leistungsdichtespektrum im Frequenzbereich von 0,04 bis 0,15 Hz Sympathikus und Parasympathikus, wobei der Anteil des Sympathikus überwiegt Frequenzbereich
LF/HF Quotient der sympatho-vagalen Balance; als Wert des Zusammenspiels von Parasympathikus (HF) und Sympathikus (LF) Sympathikus und Parasympathikus Frequenzbereich

(Quelle: Tabelle 2 aus der Leitlinie Nutzung der Herzschlagfrequenz und der Herzfrequenzvariabilität in der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaft mit einer Änderung aufgrund der Quelle Reminder: RMSSD and SD1 are identical heart rate variability metrics )

Mehr Klarheit mit den Messmethoden

Ich hatte es ja bereits angedeutet: Auch mit den Messmethoden lässt sich in punkto HRV-Parameter für etwas mehr Klarheit sorgen.

Ein ganz pragmatischer erster Ansatz ist, die Messdauer als Auswahlkriterium zu nehmen. Wenn Sie nur Kurzzeit-Messungen machen wollen, dann können Sie einige HRV-Parameter komplett ignorieren. Beschäftigen Sie sich nicht mit Parametern, die nur zuverlässig interpretierbar sind, wenn länger als fünf Minuten gemessen wird.

Für folgende Werte empfehlen Experten eine längere Messdauer:

SDANN empfohlen werden 24 Stunden
SDNN-Index empfohlen werden 24 Stunden
HF mindestens 5 Minuten
LF mindestens 5 Minuten
LF/HF mindestens 5 Minuten
VLF Messzeit über 5 Minuten
ULF empfohlen werden 24 Stunden

(Quellen: Buch Herzschlagvariabilität, Werner und Ralf Arne Wittling, Seite 133, und Tabelle 2 aus der Leitlinie Nutzung der Herzschlagfrequenz und der Herzfrequenzvariabilität in der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaft)

Als zweiter Ansatz hilft der Vergleich der Ergebnisse zweier Messverfahren. Für eine hinreichende Einschätzung des gesundheitlichen Zustandes empfehlen sich immer zwei Messungen:

Denn bei einigen HRV-Parametern fließen die Aktivitäten von Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig ein. Wie groß der Anteil des Parasympathikus ist, lässt sich nur ermitteln, wenn bei der Messung die Atmung miteinbezogen wird. Denn mit Hilfe der respiratorischen Sinusarrhythmie kann der Einfluss des Parasympathikus nachgewiesen werden.

Interessant ist der Vergleich beider Messungen immer dann, wenn die Messung ohne Atemvorgabe schlecht ausfällt. Mit der RSA-Messung lässt sich ermitteln, über welche Reserven zur Aktivierung des Parasympathikus der Körper noch verfügt. Fallen die Werte der RSA-Messung besser aus, erlaubt das eine gute Prognose.

Die für den Vergleich interessanten HRV-Parameter sind RMSSD, SD1, HF und pNN50. Alle Werte müssen im Idealfall bei der RSA-Messung ansteigen.

Im therapeutischen Bereich kann es sinnvoll sein, auch die “gemischten” HRV-Parameter einzubeziehen. In der folgenden Tabelle ist eine Auswahl von HRV-Parametern, die sowohl von der Aktivierung des Sympathikus als auch des Parasympathikus beeinflusst werden.

LF Sympathikus und Parasympathikus, wobei der Anteil des Sympathikus überwiegt
LF/HF Sympathikus und Parasympathikus
SD2 Sympathikus und Parasympathikus

Was tun Hersteller gegen das HRV-Parameter-Chaos?

Systemanbieter überlegten ebenfalls, welche HRV-Parameter man im Wesentlichen braucht. Sie wollen auch vermeiden, dass der Anwender “den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht”.

Im Folgenden führe ich fünf Anbieter als Beispiele auf.  Aber mein Eindruck ist, dass zumindest auch bei weiteren Systemen, die ich kenne, eine ähnliche Auswahl der HRV-Parameter vorgenommen wird.

Die Firma BioSign GmbH stellt zwar alle erdenklichen HRV-Parameter zur Verfügung. Aber sie hat ein Konzept entwickelt, um anhand von 3 Parametern bei der RSA-Messung bzw. 5 wesentlichen Parametern bei der Kurzzeit-Messung einen Überblick darzustellen:

  • Flexibilität (Variationskoeffizient RR)
  • Tonus (mittlere Herzfrequenz)
  • Dynamik 1 (SD1) und Dynamik 2 (SD2)
  • Stressindex

Hierzu gibt es ein gut verständliches Info-Video über das Konzept “Flexibilität, Dynamik, Tonus”.

Die Firma Commit GmbH heben als Hauptparameter der VNS-Analyse folgende HRV-Parameter hervor:

  • HF (mittlere Herzfrequenz)
  • Alpha1 (ein Ergebnis der trendbereinigten Fluktuationsanalyse)
  • SDNN
  • SI (Stressindex)
  • RMSSD

Die Firma Varilytic UG hat sich fast für dieselben HRV-Parameter entschieden:

  • Herzfrequenz
  • Gesamtvariabilität (SDNN)
  • Vagusaktivität (RMSSD)
  • Stressindex (SI)

Die Firma VIITA Holding GmbH verwendet für die Analyseergebnisse ihres Systems Vitalmonitor teilweise schon abgeleitete Modellwerte aus SDNN, RMSSD, Verhältnis HF/LF und die Abweichung des aktuellen Ruhepulses vom Durchschnitt für eine individualisierte Längsschnitt-Interpretation:

  • Regeneration
  • Stress (physisch/psychisch)
  • BioAge (biologisches Alter)
  • Ruhepuls
  • Herzraten-Variabilität (angabegemäß SDNN)

Die Firma BITsoft wertet die Entspannungsreaktion von Anwendern im Sinne eines bio-psycho-sozialen Modells mit ihrem System Stress Pilot auf zwei Ebenen aus. Sie verwendet spezielle Fragebögen zur Bewertung der psychischen (subjektiv-verbalen) Ebene und zur Bewertung der physiologischen Ebene misst der Stress Pilot in Form einer RSA-Messung die HRV-Parameter

  • mittlere Herzfrequenz
  • RMSSD

Könnte man sich auf einen einzelnen HRV-Parameter verlassen?

Lassen Sie es mich mit einem Blutbild vergleichen. Mit einzelnen Blut-Werten, wie einem hohen Cholesterinspiegel oder zu vielen weißen Blutkörperchen, lassen sich Teil-Aussagen treffen. Sie können in klaren Fällen als ein Hinweis auf eine Erkrankung oder im Allgemeinen als Anlass für weitere Untersuchungen dienen. Für eine komplette Diagnosestellung reichen einzelne Blutwerte meistens nicht aus. Ganz ähnlich verhält es sich mit einzelnen HRV-Parametern.

Mit Hilfe einzelner Parametern wie dem Stressindex, dem RMSSD, der SDNN oder Total Power lässt sich einschätzen, ob das vegetative Nervensystem ausgeglichen arbeitet oder ob sich eine Störung der Regulation abzeichnet. Einzeln verwendete Parameter-Werte erlauben keine vollständige Beurteilung der Regulationsfähigkeit des vegetativen Nervensystems. Nur für eine erste Einschätzung eignen sich einzelne HRV-Parameter.

Gesunde Menschen können mit einzelnen HRV-Parametern schauen, wie ausgeschlafen, fit, entspannt oder gestresst sie gerade sind. Für eine Einschätzung von größeren gesundheitlichen Problemen, wie z. B. chronischer Stress, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, reichen sie jedoch nicht aus. Hierfür müssen mehrere geeignete Parameter im Verbund betrachtet werden – am besten von einem erfahrenen Arzt, Therapeuten oder Coach.

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